Angehörigenpflege und Arbeitslosenversicherung: Kein Versicherungsschutz bei Pflegebeginn vor 2017
Pflegende Angehörige können seit 2017 ohne eigenen Beitrag gegen Arbeitslosigkeit versichert sein.

Angehörigenpflege und Arbeitslosenversicherung: Kein Versicherungsschutz bei Pflegebeginn vor 2017

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Seit Anfang 2017 gilt: Wer einen Angehörigen pflegt, ist unter bestimmten Voraussetzungen ohne eigenen Beitrag arbeitslosenversichert. Vor den Sozialgerichten wird heftig darüber gestritten, ob ein Teil der Bedingungen auch dann erfüllt werden kann, wenn die Angehörigenpflege bereits vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung begonnen hat.

 

Inhalt

 

Voraussetzung für die Arbeitslosenversicherung ohne eigenen Beitrag ist, dass die Pflege mindestens zehn Stunden in der Woche an mindestens zwei Tagen in Anspruch nimmt. Und: Der Pflegende muss vor dem Beginn der Pflege versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sein oder Arbeitslosengeld bezogen haben.

In der Sozialgerichtsbarkeit wird heftig darüber gestritten, ob die zuletzt genannten Bedingungen auch dann erfüllt werden können, wenn die Angehörigenpflege bereits vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung begonnen hat.

Ein Betroffener klagt sich durch alle Instanzen

Vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen wurde über die Klage eines Mannes verhandelt, der seine demente Mutter bis zu deren Tod 2019 weit über ein Jahrzehnt lang gepflegt hatte. Neben der belastenden Pflege hatte er bis 2008 sozialversicherungspflichtig gearbeitet, nach Verschlechterung der Gesundheitssituation seiner Mutter jedoch seine Beschäftigung als Dreher aufgegeben und bis 2009 Arbeitslosengeld bezogen – was neben der Angehörigenpflege möglich ist.

Als er 2019 nach dem Tod seiner Mutter erneut Arbeitslosengeld beziehen wollte, lehnte die Arbeitsagentur seinen Antrag ab, was das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen – in Abänderung des Urteils der Vorinstanz – bestätigte.

Das LSG argumentierte, die Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung für Pflegepersonen sei erst 2017 eingeführt worden. Sie greife nur, wenn zu diesem Zeitpunkt eine Anbindung an die Arbeitslosenversicherung – sei es als Versicherter oder als Leistungsbezieher – bestand. Dem Gesetzgeber habe es freigestanden, auch die Zeit der Angehörigenpflege, die vorher stattgefunden hat – und noch vorher den Bezug von Arbeitslosengeld oder eine versicherungspflichtige Beschäftigung – zu berücksichtigen. Das sei aber weder im Gesetz so angeordnet noch ergebe es sich durch Auslegung als zweifelsfreier Wille des Gesetzgebers.

Deshalb sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber einen scharfen »Cut« ziehen wollte und Altfälle nicht habe einbeziehen wollen. Der Betroffene erfülle daher durch die Pflege seiner Mutter nicht die Anwartschaft fürs Arbeitslosengeld. Sein Antrag wurde zu Recht abgelehnt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.11.2021, Az. L 20 AL 69/21).

Das LSG Hamburg hat in einem vergleichbaren Fall am 11.8.2021 eine genau entgegengesetzte Rechtsauffassung vertreten und einer langjährig (seit 2000) pflegenden Versicherten, die vor Beginn der Pflege ihres Kindes bzw. in der ersten Zeit der Pflege sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, nach dem Ende der Pflege im Jahr 2020 Arbeitslosengeld zugestanden. Das Gericht wertete die Zeit der Pflege als Anwartschaftszeit fürs Arbeitslosengeld und argumentierte: Hätte der Gesetzgeber dies für »Altfälle« ausschließen wollen, so hätte er dies gesetzlich normieren müssen, dies sei aber nicht geschehen (Urteil vom 11.8.2021, Az. L 2 AL 2/21).

Gegen beide Urteile wurde Revision beim BSG zugelassen. Gegen das Urteil aus NRW liegt eine Revision beim BSG an. Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen B 11 AL 1/22 R geführt, am 6.6.2023 soll der Fall verhandelt werden.

Wie sollten andere Betroffene reagieren?

Pflegende Angehörige, die sich in einer vergleichbaren Situation wie die Kläger in den skizzierten Verfahren befinden, sollten – soweit bei ihnen Arbeitslosigkeit vorliegt – die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld beantragen und im Falle einer Ablehnung unter Verweis auf das anstehende Urteil des BSG Widerspruch einlegen.

Darüber hinaus ist pflegenden Angehörigen, die vor Beginn der Pflege nicht unter dem Schutz der Arbeitslosenversicherung (als Versicherter oder Leistungsbezieher) standen, anzuraten, gegebenenfalls zunächst vor Pflegebeginn eine kurze sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen, um so in der Zeit der Pflege in der Arbeitslosenversicherung pflichtversichert zu sein.

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(AI, MB)

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