Unfall: Versicherer nimmt Arbeitsweg unter die Lupe
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Die Fahrt von einem dritten Ort zum Job steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung – egal wie weit der dritte Ort vom Arbeitsplatz entfernt ist.
Sogenannte Wegeunfälle – also Unfälle auf dem Hin- und Rückweg zum Arbeitsplatz – stehen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Oftmals wählen Arbeitnehmer nicht den direkten Weg zum Job, sondern halten sich vorher bei einer Freundin, im Fitnessstudio, bei einem Volkshochschulkurs oder sonst wo auf und fahren danach zur Arbeit.
Der Weg zu dieser Zwischenstation ist keinesfalls Arbeitsweg und steht nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Anders kann der Weg von der Zwischenstation zum Job beurteilt werden. Dieser kann als Arbeitsweg angesehen werden, wenn sich ein Versicherter mindestens zwei Stunden – es muss also schon ein langer Fitnessstudioaufenthalt sein – an diesem Ort aufgehalten hat (bzw. nachgewiesenermaßen aufhalten wollte) und sich dann auf direktem Weg zum Job gemacht hat.
Dann wird diese Zwischenstation zum dritten Ort – und von hier aus beginnt der Arbeitsweg.
Eigentlich neu an den beiden Urteilen des Bundessozialgerichts vom 30.1.2020 ist die Abkehr vom Konzept der Pendelentfernung. Das Bundessozialgericht befand nun nämlich in einer Klarstellung zu den Entscheidungen, dass es völlig egal ist, wie weit der dritte Ort vom Arbeitsplatz entfernt ist.
Fall 1
Hierbei ging es um den Unfall eines jungen Mannes, dessen Lebenssituation sich nach den vom Bundessozialgericht zusammengetragenen Fakten kurz gefasst so darstellt: Arbeiten, danach Essen bei den Eltern, Schlafen bei der Freundin.
Die Langfassung geht so: Der Betroffene war als Auslieferungsfahrer tätig. Sowohl sein Betrieb als auch die Wohnung seiner Eltern – hier bewohnte er ein Zimmer und war hier gemeldet – befanden sich im selben Ort. Nach Beendigung der Arbeit fuhr der Kläger mit seinem Pkw an den fünf Arbeitstagen der Woche regelmäßig zunächst die 2 km zur Wohnung der Eltern, nahm dort eine Mahlzeit zu sich und fuhr dann zu der 44 km von der Arbeitsstelle entfernten Wohnung seiner Freundin. Dort übernachtete er an den fünf Arbeitstagen der Woche und fuhr morgens von der Wohnung der Freundin zu seiner Arbeitsstelle. Auf einem solchen Weg verunglückte er am 9.9.2004 und zog sich Verletzungen zu.
Die Berufsgenossenschaft (BG) für Handel und Warenlogistik lehnte die Anerkennung des Unfallereignisses als Arbeitsunfall ab, weil der Kläger sich nicht auf einem versicherten Weg befunden habe.
Nach knapp 16 Jahren gab nun das Bundessozialgericht dem Betroffenen nach einer ewigen Klagegeschichte recht: Zweimal hatte der Kläger durch alle Instanzen erfolglos versucht, diese Entscheidung ändern zu lassen. Im dritten Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X hatte er jetzt nach insgesamt siebenjähriger Verfahrensdauer vor dem Bundessozialgericht (BSG) endgültig Erfolg.
Das BSG befand: Der Betroffene hatte in der Wohnung seiner Freundin übernachtet und dort mehr als zwei Stunden verbracht. Der Unfall ereignete sich auf dem direkten Weg von diesem dritten Ort zum Job und sei mithin ein Arbeitsunfall. Dass der eigentliche melderechtliche Wohnsitz des Betroffenen nur zwei km vom Arbeitsplatz, die Wohnung der Freundin jedoch 44 km entfernt war, spielte für das Gericht keine Rolle. Das BSG wich hier ausdrücklich von seiner bisherigen Rechtsprechung ab und stellte nunmehr zur Herstellung von Rechtsanwendungssicherheit ausdrücklich klar. Bei einem Unfall auf dem Weg von einem sogenannten dritten Ort kommt es weder auf einen Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken an noch auf etwaige betriebsdienliche Motive für den Aufenthalt am dritten Ort. Auch auf den erforderlichen Zeitaufwand zur Bewältigung der verschiedenen Wege und deren Beschaffenheit bzw. Zustand, das benutzte Verkehrsmittel oder das erhöhte, verminderte bzw. annähernd gleichwertige Unfallrisiko kommt es nicht an. Es zählt allein, dass der Aufenthalt in der Zwischenstation länger als zwei Stunden dauerte (Az. B 2 U 2/18 R).
Fall 2
Hier war ein Beschäftigter für die Beförderung von Personen mit einer Behinderung zuständig. Nach seiner ersten Tour fuhr er zu einem Freund und hielt sich dort länger als zwei Stunden auf. Als er später von dort losfuhr, um seinen Mittagsdienst anzutreten, verunglückte er mit dem Motorrad. Weil die Entfernung zur Arbeitsstätte von der Wohnung des Freundes dreimal länger war als der übliche Arbeitsweg, hatte der zuständige Unfallversicherungsträger die Anerkennung als Arbeitsunfall abgelehnt.
Auch hier entschied das BSG anders. Es kommt nicht darauf an, in welchem Verhältnis die Entfernung von dem dritten Ort zur Arbeitsstätte zur Länge des üblichen Arbeitswegs steht (Az. B 2 U 20/18 R). Zudem wird im Vergleich beider Urteile deutlich, dass es sich hier nicht um Beziehungsurteile handelte. Dass es in Fall 1 um den regelmäßigen Aufenthalt bei der Freundin ging, ist eigentlich nur eine Nebensache, es geht nur – ganz formal – um den mehr als zweistündigen Aufenthalt.
Überprüfungsanträge für nachteilige Entscheidungen in der Vergangenheit können sich lohnen, denn die aktuelle Rechtsprechung des BSG zum Weg vom dritten Ort zur Arbeitsstelle weitet den Unfallversicherungsschutz zugunsten der Versicherten gegenüber der Entscheidungslinie der Berufsgenossenschaften und der bisherigen Rechtsprechung aus. Deshalb ist es sinnvoll, zumindest nach solchen bisher nicht anerkannten Wegeunfällen, die weiterhin erhebliche Beeinträchtigungen der Betroffenen bewirken, zu prüfen, wie der Unfallversicherungsschutz nach der neuesten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beurteilen wäre. § 44 Abs. 1 SGB X gibt Versicherten die Möglichkeit, auch nach Bestandskraft eines Verwaltungsakts und ggf. auch nach Bestandskraft von Sozialgerichtsurteilen einen Überprüfungsantrag zu stellen. Dabei sollte man sich auf die skizzierten BSG-Urteile und die neue Rechtsposition des BSG beziehen.
(MS)